Junge.Kirche 7·8/2000
Der mühsame Weg zum Frieden in Nahost

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Inhalt [PDF]

Zu diesem Heft
Martin Stöhr

Camp David – ein Schritt zum Frieden?
Erklärungen der Verhandlungspartner

Zwischenruf
Ernst Böttcher

„Wo es keine Vision gibt, da wird das Volk zugrunde gehen“
Uri Avnery

Der kürzeste Weg ist der lange Gedicht
Nitai Keren

Saladins Gespenst
Amos Oz

Das „Gespenst“ des Amos Oz
Maron Benvenisti

Das letzte Hurra
Jonathan Rosenblum

Für einen gerechten Frieden
Aufruf der palästinensischen Friedensbewegung
Hanan Ashrawi u. a.

„Ein unabhängiger Staat Palästina – dieses Motto gilt nicht mehr“
Nazmi Al Jubeh

Das Banner der Liebe Gedicht
Hanan A. Awwad

Das Recht auf einen eigenen Staat
Interview mit Rafiq Khoury

„Der Konflikt ist nicht religiöser Natur“
Interview mit Munib A. Younan

Christlicher Widerstand gegen die Teilung der Altstadt Jerusalems

Die chronische Krise Israels
Roni Ben Efrat

Schalom – Israels langer Kampf um den Frieden
Ezra BenGershom

Ein Ende setzt wieder einen Anfang. Nach dem Abbruch der Gespräche in Camp David sind verschiedene Interpretationen im Umlauf. Sie reichen von der Auffassung, der Friedensprozess sei gescheitert, bis zu der Hoffnung, er gehe chancenreich weiter. Und er geht weiter. Wahrscheinlich tut ihm die Befreiung aus dem Zeitkäfig und dem Druck einer Klausur, dazu im US-amerikanischen Wahlkampf, gut, obwohl Druck eine Notwendigkeit zu sein scheint. Dieser hat jedoch seine Grenzen, wenn er den Druck der eigenen Bevölkerung nicht ernst nimmt.

Vielleicht wird der fremde Druck durch einen authentischeren Druck abgelöst, der von den beiden Regierungen bestimmt ist, die ihrerseits unter dem Druck ihrer innenpolitischen Schwächen sowie unter dem Erwartungsdruck ihrer Bevölkerungen stehen. Diese haben ein Recht auf Fortschritte, weil Menschen ein Grundrecht auf Frieden, Gerechtigkeit und Sicherheit haben.

Die Fertigstellung der vorliegenden Doppelnummer Junge.Kirche bewegte sich auch zwischen Scheitern und Hoffnung. Am Anfang der Planung gab es einige eindrucksvolle Zusagen wichtiger Autoren und Autorinnen aus der Region. Sie verkörperten – so war das Konzept – wichtige Stimmen in der nahöstlichen politischen Debatte. Der israelische wie der palästinensische Mainstream, die überall beliebte Mitte, sollte zu Wort kommen und genauso wichtige Stimmen aus einigen Friedens- und Menschenrechtsinitiativen in beiden Lagern. Mit dem Fortgang der Camp David-Verhandlungen erlebte die Redaktion der Jungen Kirche eine andere Art von Fortgang. Wer versprochen hatte, etwas beizusteuern, ruderte zurück und ging plötzlich fort – in Urlaub, ins Grübeln, in Ratlosigkeit, in Enttäuschung. Wer wollte sich schon analytisch oder gar prognostisch äußern, während Camp David noch lief? Was sollte man schreiben?

Die Redaktion musste neu anfangen und rasch nach neuen Beiträgen suchen. Frank Kürschner-Pelkmann fertigte die meisten Übersetzungen an. Der Zeitdruck war enorm. Das Ziel blieb, sehr verschiedene Stimmen zum Nahostkonflikt zu sammeln und vorzustellen. Das Ziel ist nicht, die Urteilsbildung der Leser und Leserinnen zu erleichtern, sondern zu erschweren. Wie im Nahen Osten die Zeit der plakativen Formeln „Israelis ins Meer werfen!“ oder „Es gibt kein palästinensisches Volk!“ vorbei ist, jedenfalls für die Mehrheit der beiden betroffenen Bevölkerungen, so sollte diese Zeit auch hierzulande vorbei sein. Hier war manches Urteil schlichter und leichter gefällt, weil die Urteilenden dort nicht leben müssen, wo der Konflikt noch immer ungelöst ist. Wichtiger noch: Weil die Komplexität der innerisraelischen wie der innerpalästinensischen Diskussion in Deutschland kaum wahrgenommen wird – wenn sie überhaupt eine nennenswerte Zahl von Menschen interessiert. Auch dieses Heft kann nicht die ganze Breite unterschiedlicher Analysen, Positionen und Zukunftskonzepte darstellen.

Das Heft beginnt mit der gemeinsamen Erklärung zum Ende von Camp David. Ministerpräsident Ehud Barak und die Palästinensische Nationalbehörde legen dann ihre Positionen und Einschätzungen zu den Verhandlungen dar. Deren gemeinsamer Nenner ist immerhin, dass der Friedensprozess nicht abgebrochen, sondern nur unterbrochen sei. Es folgen eine Reihe von Stimmen aus Israel und Palästina, die mal stärker kritische Alternativen zur Politik der israelischen Regierung oder zur Politik der Palästinensischen Nationalbehörde vertreten, mal ihnen näher stehen. Eine Systematisierung ist weder beabsichtigt noch möglich. Es sind immer bedenkenswerte, weil nachdenkliche Stimmen. Sie machen kritisch Grundpositionen und Konzepte derer deutlich, die mit den gewählten Vertretern jeweils ihres Landes nicht einverstanden sind. Keine Stimme aber ist gleichgültig gegenüber der Bevölkerung, aus der sie kommt. Alle wollen das Beste für ihr Land. Hier liegen die Antworten, auch innerhalb einer Gesellschaft, noch weit auseinander. Die Beiträge spiegeln die ungelösten Probleme wider: Wie wird der Status von Jerusalem aussehen? Wie wird die Zukunft der palästinensischen Flüchtlinge gestaltet? Rückkehr? Entschädigung? Was ist die Rolle der arabischen Nachbarn in dieser Frage? Was wird aus den israelischen Siedlungen im Gaza-Streifen und auf der Westbank? Wie werden die legitimen Sicherheitsforderungen Israels berücksichtigt?

Wenn ich das niederschreibe, könnte mich Pessimismus überfallen. Ich halte mich lieber an die Beobachtungen vieler Kommentatoren während und nach den Verhandlungen in Camp David. Es gibt einen breiten Konsens darüber, dass

  • nach 1988, als der Staat Israel durch die Palästinenser erstmals offiziell anerkannt wurde,

  • nach dem Beginn der Friedensverhandlungen in Madrid 1991 und

  • nach Oslo 1993, wo ein Rahmenabkommen für den Friedensprozess vereinbart wurde,

jetzt insofern ein entscheidender Schritt gegangen worden ist, als bisher tabuisierte Themen auf beiden Seiten auf dem Verhandlungstisch liegen. Wie oft die zukünftigen Verhandlungen auch noch unterbrochen oder sich hinziehen werden, dieser Schritt ist von entscheidender Bedeutung. Er ist irreversibel. Es wurde angepackt, was bisher als unberührbar galt. Das gilt vor allem für die Jerusalem-Frage, die gegen notwendige Kompromisse am widerständigsten zu sein scheint.

Ein paar Eckdaten sind festzuhalten:

  1. Die gemeinsamen Interessen dieser Region ohne Rohstoffe können die Lebensgrundlagen für ihre Völker Israel, Palästina, Jordanien und Libanon in Zukunft nur gemeinsam sichern, nicht aber gegeneinander.

  2. Das Völkerrecht muss wieder zu seinem Recht kommen. Es existiert und ist auszubauen als die entscheidende Alternative zur Gewalt. Das gilt, auch wenn auf unserem Globus viele Mächte wenig von ihm halten. Der Beschluss des Völkerbundes von 1922, der die Balfour Deklaration bestätigte, legte eine, wenn auch fragile Grundlage. Dort erhielt das jüdische Volk ein Heimatland zugesprochen, wo immer Juden gelebt hatten. Zugleich wurden die Rechte der dort lebenden Araber ausdrücklich abgesichert. Nach der Schoa hatte 1947 die UNO einen Teilungsbeschluss gefasst, der der jüdischen und der arabischen Bevölkerung je ein Land beziehungsweise einen Staat zusprach. Damit war jedem der beiden Völker ein Recht gegeben, das in der langen Unrechts- und Kriegsgeschichte nicht vergessen werden darf. In Erinnerung zu rufen sind auch jene UNO-Beschlüsse, die immer das Lebensrecht beider in gesicherten Grenzen fordern, in der Resolution 194/III die Rückkehr oder die Entschädigung der Flüchtlinge und in der Resolution 242 die Räumung (in der englischen Übersetzung) „besetzter Gebiete“ (in der französischen Fassung „der besetzten Gebiete“) verlangen.

  3. Die religiöse Bedeutung Jerusalems – und sie ist mehr als bloße Symbolik – für Juden, Christen und Muslime ist ein realpolitisches Faktum, muss also realpolitisch gelöst werden – auch wenn religiöse Hardliner lieber den Konflikt verschärfen wollen als im Geist ihrer Religionen ihn zu lösen versuchen.

  4. Unbestreitbar ist Israel als eine Zufluchtsstätte der Überlebenden der Schoa oder der durch Antisemitismus, Rassismus oder Diskriminierung bedrohten Juden. Zeichnet sich die israelische Gesellschaft dadurch aus, dass sie in zwei fast gleichstarke Lager gespalten ist, die nur sehr ungenau mit Tauben und Falken beschrieben werden, so ist die palästinensische Gesellschaft durch Besatzung und hohe Arbeitslosigkeit charakterisiert. Beide Gesellschaften sind in der Mehrheit ihrer Bevölkerung, wenn nicht enttäuschte Hoffnungen in Gleichgültigkeit oder Lethargie umgeschlagen sind, durch eine tiefe Sehnsucht nach Frieden verbunden. Allerdings muss es ein Frieden sein, der mehr ist als ein Waffenstillstand.

Dieser ist im Bewusstsein der meisten Israelis ständig durch Terroranschläge (und durch Existenzbestreitungen Israels zum Beispiel aus dem Iran, Irak und Libyen) bedroht. Deswegen hat das Sicherheitspostulat einen hohen Stellenwert in Israel.

Die palästinensische Gesellschaft erfährt den Waffenstillstand als Fortdauer verweigerter Staatlichkeit, eingeschränkter Bürgerrechte und gebremster ökonomischer Entwicklung. Besatzungstruppen und Siedler verkörpern diese Einschränkungen.

Auf beiden Seiten der grünen Linie, die noch immer die spürbare Grenze zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten ist, ist man dieser Zustände und der damit verbundenen Gewalt aber müde. Frieden und Gerechtigkeit sind ohne Alternative, was aber auch bedeutet, dass ihre Gestalt in jeder der beiden Gesellschaften und erst recht zwischen beiden noch viel Geduld und Kompromissbereitschaft verlangt.

Der Status quo ist noch immer von einer mehrfach asymmetrischen Feindschaft in der Region überlagert: ein militärisch und ökonomisch starkes Israel gegenüber einem schwachen Palästina, ein schwaches Israel gegenüber ökonomisch starken islamischen Staaten sowie starke fanatische Gruppen gegen ihre jeweiligen Gesellschaften, eine Demokratie unter autoritär verfassten Staaten. Der Präses der Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien, J.M. Shihadeh, Pfarrer in Beit Jallah, benutzte eine Formulierung, die ich als ein politisches Doppelgebot der Liebe verstehen könnte: „Das Glück des einen Volkes hängt vom Glück des anderen Volkes ab. Mit anderen Worten: Wenn man Israel liebt, dann soll man Palästina helfen. Wenn man Palästina liebt, dann soll man Israel zur Seite stehen.“

Nachdem die bisherigen Themenhefte auf gute Resonanz gestoßen sind, weil sie auch als Arbeitsmaterialien in der Schule, der Gemeinde und der Erwachsenenbildung gut brauchbar waren, legt die Redaktion Junge.Kirche ein neues Themenheft vor. In der Tradition der Sommerzeit ist es ein Doppelheft.

Wie die Redaktion wünsche auch ich allen Leserinnen und Lesern eine ertragreiche Lektüre
und den Völkern der Region einen menschenfreundlichen Frieden.
Ihr Martin Stöhr